Zinsen rauf oder Zinsen runter? Schweigen oder reden?
Tante Olga (= Fed) und Tante Erna (= EZB) stecken derzeit in einer Zwickmühle.
Als Moderatorinnen (= Währungshüter) des globalen Kaffeeklatschs (= Welthandel) scheint ihnen gerade die Kontrolle zu entgleiten. Sollen sie den Redefluss eindämmen (= Geldmenge reduzieren) indem sie mehr Gesprächsdisziplin einfordern (= Zinsen erhöhen)?
Dies birgt allerdings das Risiko, dass das Gespräch verstummt. Oder sollen sie zum Dialog animieren (= Zinsen senken), damit sich wieder ein Gewinn bringender Gedankenaustausch einstellen kann (= Ankurbelung der Wirtschaft)? Um diese Frage zu beantworten und eine sinnvolle Entscheidung zu fällen, müssten sie natürlich erst einmal wissen, was genau da eigentlich zwischen den Teilnehmern des Kaffeekränzchens (= Welthandel) abläuft.Und zwar nicht nur im Außen (das Offensichtliche), sondern auch im Seelenleben der Klatschtanten (im Verborgenen). Und sie müssten wissen, mit wem genau sie es da zu tun haben. Eine Patentlösung für dieses Problem gibt es nicht, es erfordert immer eine auf die jeweilige Situation bezogene Entscheidung.
Zu beurteilen, um welche Art von Gesprächsgruppe es sich beim globalen Kaffeeklatsch handelt, dafür fehlt mir leider das nötige Fachwissen. Auch dürfte es eine komplexe, umfangreiche Aufgabe sein, den Seelenzustand jeder einzelnen Klatschtante zu analysieren. Dennoch möchte ich anhand einiger Szenarien aufzeigen, wie sich verbalesische Zinspolitik bei einem Kaffeekränzchen auswirken kann.
Szenario 1: Der Kindergarten
Stellen wir uns einmal vor, die Teilnehmer des Welthandels (= globaler Kaffeeklatsch) befänden sich auf dem geistig-emotionalen Niveau von Kleinkindern. Und stellen wir uns vor, der Weltmarkt sei durch eine Niedrigzinspolitik in den letzten Jahren mit billigem Geld überschwemmt worden. Ins Verbalesische übersetzt bedeutet dies:
Die Erziehungsberechtigten (= Moderatoren = Fed + EZB) waren in der Vergangenheit in ihrem Erziehungsstil sehr großzügig, tolerant, um nicht zu sagen: lasch. (Anmerkung: Genau dies ist z.Z. auch ein familienpolitisches Thema). Dies könnte bedeuten, sie haben bei dem, was die Kinder sagten und wie sie es sagten, sehr großzügige Maßstäbe angelegt. Doch wie kommunizieren Kinder, denen kaum Grenzen gesetzt werden und die noch keine gesellschaftlichen Wertmaßstäbe verinnerlicht haben? Sie kommunizieren jedenfalls nicht besonders weise, auch nicht besonders weit- und umsichtig, nicht besonders gesellschaftstauglich, sie werfen mit Hänseleien und Beleidigungen um sich, sie wollen alle das letzte Wort haben und irgendwann werden ihre Worte (= Geld) wirkungslos (= wertlos), weil der Spielkamerad, mit dem sie eben noch plauderten, plötzlich eingeschnappt ist und jede Kommunikation verweigert (= Wirtschaftskrise). Oftmals wird dann der kommunikative Austausch mittels Tritten und Schlägen fortgesetzt (= Krieg).
In unserem Wirtschaftskindergarten könnte also eine verbalesische Hochzinspolitik von Seiten der Erziehungsberechtigten (= Fed + EZB) geboten sein. Auch auf die Gefahr hin, dass dadurch der verbale Austausch (= Handel) kurzzeitig zum Erliegen käme (= Rezession, Stagnation). Und wie sähe diese verbalesische Hochzinspolitik aus? Die Erziehungsberechtigten (= Fed + EZB) würden jedes Wort ihrer Schützlinge auf die Goldwaage legen (= teures Geld = hoher Zinssatz) und falsche Worte sofort sanktionieren (Zins = Wachstumsrate einer nicht beglichenen Schuld).
Szenario 2: Das kleine Mallheuer
Stellen wir uns einmal ein Kaffeekränzchen (= Weltmarkt) vor, bei dem die Klatschtanten sich angeregt, aber kultiviert unterhalten. Die beiden Gastgeberinnen (Fed + EZB) haben ihre Gäste in den letzten Stunden animiert, sich wie zu Hause zu fühlen, das heißt: kein Blatt vor den Mund zu nehmen (= Niedrigzinspolitik der letzten Jahre). Doch Kaffeekränzchen haben es manchmal in sich. Da lauern versteckte Tretminen im Untergrund (= seelische Sprengladungen), die bei der leisesten Berührung explodieren und einen kleinen Schock auslösen können (= Börsencrash). Auf eine solche Tretmine ist Tante Waltraud bei Tante Rosi getreten. Deshalb ist Tante Waltraud stinksauer auf Tante Rosi und umgekehrt. Und die anderen Klatschtanten solidarisieren sich teils mit Tante Waltraud, teils mit Tante Rosi, andere bleiben neutral oder versuchen, differenziert auf das Problem einzugehen. Doch im Großen und Ganzen wird das Kaffeekränzchen von der Spannung zwischen Tante Waltraud und Tante Rosi infiziert (= befürchtete Stagflation mit der Gefahr einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung). Es kommt zu kleinen Überreaktionen und einer leichten Stagnation des Redeflusses (= Verringerung des Wirtschaftswachstums). In diesem Fall könnte eine verbalesische Niedrigzinspolitik angebracht sein. Das heißt, die Gastgeberinnen sollten die Klatschtanten mit weisen Worten ermuntern, wieder zu einer lockeren, zwanglosen Unterhaltung zurückzukehren.
Szenario 3: Das große Mallheuer
Dieses Mallheuer könnte genauso beginnen, wie das kleine Mallheuer. Allerdings mit einem anderen Ausgang.
Stellen wir uns also noch einmal ein Kaffeekränzchen (= Weltmarkt) vor, bei dem die Klatschtanten sich angeregt, aber kultiviert unterhalten. Die beiden Gastgeberinnen (Fed + EZB) haben ihre Gäste in den letzten Stunden animiert, sich wie zu Hause zu fühlen, das heißt: kein Blatt vor den Mund zu nehmen (= Niedrigzinspolitik der letzten Jahre). Doch jetzt kommen wieder die Tretminen ins Spiel. Tante Waltraud tritt bei Tante Rosi auf eine Tretmine. Wieder beginnen die Klatschtanten, sich zu solidarisieren. Teils mit Tante Waltraud, teils mit Tante Rosi, andere bleiben neutral oder versuchen, differenziert auf das Problem einzugehen. Doch im Großen und Ganzen wird das Kaffeekränzchen von der Spannung zwischen Tante Waltraud und Tante Rosi infiziert. Es kommt zu Überreaktionen sowie zu einer Stagnation des Redeflusses auf der einen Seite und einer hitzigen Debatte auf der anderen. Der Konflikt droht, weitere Tretminen, die im Innern des Kaffeekränzchens schlummern, zur Detonation zu bringen. Eine Kettenreaktion hätte fatale Folgen. Keine Klatschtante würde der anderen mehr über den Weg trauen (Entwertung der Worte = Inflation), der Redefluss würde stagnieren (= Rezession, Depression, Stagflation) und möglicherweise auch ganz zum Erliegen kommen.
In diesem Fall wird eine wesentlich differenziertere Vorgehensweise notwenig, als im oben beschriebenen „kleinen Mallheuer“. Da ist es mit einem Entweder-Zins-rauf-oder-runter alleine nicht mehr getan. Hier muss jedes Mitglied des Kaffeekränzchens gesondert analysiert und therapiert werden. Das heißt:
Manche der schweigenden Klatschtanten sollten besser weiterhin schweigen. Sie schweigen ja nicht gänzlich, sondern führen einen inneren Dialog (= Binnenhandel).
Andere der schweigenden Klatschtanten sollten besser reden (= Wirtschaft ankurbeln). Jedoch nicht irgendetwas, sondern möglichst nur solche Dinge, die zu einer Normalisierung des Austauschs zurückführen.
Manche der hitzig debattierenden Klatschtanten sollten besser die Klappe halten.
Andere der hitzig debattierenden Klatschtanten sollten besser weiter debattieren.
Szenario 4: Schluss mit Lustig
Ein Kreis sehr kultivierter älterer Damen trifft sich regelmäßig zum Kaffeeklatsch (= Welthandel). Und den beherrschen sie meisterhaft. Denn sie sind echte Profis im Kaffeeplausch. In den vergangenen zwei Stunden ging es äußerst lustig zu. Da jagte eine Pointe die andere und es wurde viel gelacht und gekichert (= Spaßgesellschaft der letzten 15 Jahre). So ein Mordsspaß kommt natürlich vor allem dann auf, wenn man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen muss (= Niedrigzinspolitik der vergangenen Jahre). Doch mittlerweile tut einigen Klatschtanten schon der Bauch weh und andere haben sich beim Lachen dermaßen verausgabt, dass die Pointen bei ihnen nicht mehr wirken (= Inflation). Die Damen merken so langsam, dass es wieder einmal Zeit wird, etwas ernster zu werden. Deshalb sagen Tante Olga und Tante Erna (= Fed + EZB):
„Meint Ihr nicht auch, dass wir jetzt genug gelacht haben? Lasst uns doch wieder einmal etwas ernsthaftere Gespräche führen.“ Und alle anderen Damen stimmen einsichtig zu. Dies heißt: sie sind bereit, sich zusammenzuraufen, um wieder eine etwas ernsthaftere Unterhaltung zu führen. Und bei ernsthafteren Gesprächen legt man strengere Maßstäbe an (= Hochzinspolitik). Der Redefluss (= Handel) wird dadurch zwar gebremst, aber schließlich geht es ja nicht darum, viel zu reden (= viel Handel zu treiben), sondern darum, Gespräche zu führen, die einen geistigen und emotionalen Gewinn erbringen (= Gewinn bringender Handel).
Szenario 5: Der Innovationszwang
Vor einigen Stunden hat Tante Dora beim Kaffeekränzchen ein neues Thema ins Gespräch gebracht, das von den anderen Klatschtanten begeistert aufgenommen wurde (= Innovation, z.B. PC, Internet, Multimedia). Dieses Thema verursachte derartige Euphorien, dass manche Klatschtanten die Bodenhaftung verloren, weshalb es zwischenzeitlich bereits zu einer kleinen Krise gekommen ist. Das Gesprächsthema war doch nicht so schillernd, wie es zunächst aussah (= Dotcom-Blase geplatzt). Gleichzeitig verleitete die Euphorie auch noch dazu, ungehemmt zu reden, ohne vorher gründlich nachzudenken (= Niedrigzinspolitik mit Geldflut als Folge). Jetzt verlieren die Worte immer schneller an Wert (= Inflation). Gleichzeitig geht bei einigen bisher dominanten Klatschtanten der verbale Austausch zurück, da ihre Worte nicht mehr so geschätzt werden. Da diese Klatschtanten wissen, dass neue Gesprächsthemen (= Innovationen) für ein Kaffeekränzchen das Lebenselixier schlechthin sind, suchen sie krampfhaft nach solchen Themen. Und damit diese neuen Gesprächsthemen auch eine Chance haben, zu sprießen, wird die Messlatte nach unten gelegt, sprich: die Zinsen gesenkt. Denn – das weiß jeder Kreative, der sich regelmäßig im Brainstorming übt – Gedanken, die man vor dem Aussprechen bewertet, killen so gut wie jede Innovation.
Man könnte sicher noch viele weitere Szenarien entwerfen. Doch die würden weder Tante Olga noch Tante Erna (= Fed + EZB) aus ihrer derzeitigen Misere befreien. Für sie wäre es wichtig, herauszufinden, was in den Klatschtanten des globalen Kaffeekränzchens derzeit tatsächlich abläuft und was man aus kommunikationspsychologischer Sicht tun kann, um aus dem Kaffeekränzchen ein für jeden Gewinn bringendes Event zu machen.
Dieser Beitrag bezieht sich auf den Artikel „Gefährlicher Cocktail“ im SPIEGEL Nr. 27/08 von Christian Reiermann.